Lineares TV in der Mediaplanung
06/07/2022
Fernsehen bleibt Awareness- Champion
Trotz zurückgehender Reichweiten und der schwierigen Adressierbarkeit der Zielgruppe unter 30 Jahren können andere Gattungen dem linearen Fernsehen in vielerlei Hinsicht nicht das Wasser reichen. Allerdings findet bei Werbetreibenden ein Umdenken statt.
Wir sprachen mit Patrick Becker, Geschäftsführer von moccamedia, Isabel Dickenscheid, Head of Planning & Implementation TV bei Dentsu Germany, Katharina Zester, Director Multiscreen bei Wavemaker, und Andrea Zenner, Managing Partner Media Consulting bei Mediacom, über die Bedeutung des Fernsehens im Streaming-Zeitalter und die Problematik der Preisinkation vor dem Hintergrund sinkender Reichweiten.
nb: Online-Bewegtbild ist in aller Munde und gilt als einer der wichtigsten Medienkanäle der Zukunft. Über das lineare TV hingegen wird einmal mehr der Abgesang betrieben. Dennoch: Was macht das Fernsehen im Jahr 2022 für Werbetreibenden weiterhin unverzichtbar? Wo sind die Defizite?
Patrick Becker: Das lineare TV ist noch immer ein markenbildendes Leitmedium und trägt entscheidend zur hohen Durchdringung von Zielgruppen bei. Vor allem für ältere Generationen ist und bleibt es ein gesellschaftlich relevantes Informations- und Unterhaltungsmedium. In der aktuell wirtschaftlich angespannten Zeit hat auch das Fernsehen mit knappen Werbebudgets zu tun. Außerdem stehen die starren Zeitgerüste und der vorgegebene Content in starkem Kontrast zu den individuellen Interessen und Tagesabläufen der konsumierenden Zielgruppen. Dieses klassische Medium hat also einen schweren Stand. Eine große Herausforderung für die Sender ist die Verzahnung mit anderen Werbekanälen, die in der digitalen Welt recht einfach zu realisieren ist.
Isabel Dickenscheid: Für viele Zielgruppen ist das lineare TV nach wie vor ein wichtiger Kanal, um schnell hohe Reichweiten zu generieren. Und – wie bereits gesagt wurde – je älter die Zielgruppen sind, desto stärker trifft diese Aussage zu. Die hohe Inflation der letzten Jahre hat die Attraktivität im Intermedia-Vergleich leider deutlich verschlechtert. Das führt tatsächlich insbesondere für jüngere Zielgruppen dazu, dass selbst ein Cherry Picking unattraktiv wird. Leider gibt es kaum noch wirkliche Lagerfeuer-Events oder Programm Highlights als sichere Säulen. Trotz zum Teil hoher Investments der Medienhäuser in das Programm konnten einige Neustarts in den letzten Wochen leider nicht den Nerv der Zuschauer treffen.
Katharina Zester: Doch trotz rückläufiger Reichweiten erreichen unsere Werbekunden auch 2022 in den meisten Zielgruppen über lineares TV nach wie vor den schnellsten und stärksten Nettoreichweiten-Aufbau, weshalb besonders mit Blick auf die Awareness für eine Marke das Medium TV unverzichtbar bleibt. Obwohl digitales Bewegtbild so relevant und wichtig wie noch nie ist, wissen wir bei Wavemaker, dass lineares TV weiterhin mit starken Live-Events und Eigenproduktionen bei vielen Zuschauer:innen punktet. Die diffizile Zielgruppe sind junge Erwachsene unter 30 Jahren – lineares TV allein reicht für eine breite Abdeckung dieser Alterssegmente nicht mehr aus und muss im Rahmen der Mediastrategie auf jeden Fall kritisch hinterfragt werden.
Andrea Zenner: Wir sehen das auch so: Das lineare TV erzielt noch immer die höchsten Reichweiten – auch wenn diese rückläufig sind. Mit OLV (Online Video) und CTV (Connected-TV) allein lassen sich diese Reichweiten in einer definierten Zielgruppe mit der gleichen Qualität eines Kontaktes und des Contents nicht so einfach erreichen. Wirkungsstudien zu Bewegtbild weisen immer wieder die Stärken von TV aus und zwar nicht nur für Branding-Ziele, sondern auch für aktivierende Zielsetzungen. Eine große Stärke bleibt hier die sehr genaue und granulare Auswahlmöglichkeit der Umfelder. Dabei zeigt sich auch immer wieder: Kontakt ist nicht gleich Kontakt. Das Umfeld, die Nutzungssituation, die Emotionen, die mit einem Umfeld verbunden sind, sind immens wichtig für die Werbewirkung und Bewertung von Botschaften – so eben auch von Werbebotschaften. Bei OLV ist eine so granulare Auswahl und Platzierung in der Regel nicht umsetzbar.
Und da alle Kunden vor allem wirksame Kampagnen umsetzen wollen, bleibt auch in 2022 TV als Kanal weiterhin extrem wichtig. Das belegt nicht zuletzt die hohe Auslastung trotz der massiven Inflation. Natürlich sind Defizite gegeben – angefangen von den Buchungsvorläufen, die deutlich verkürzt werden könnten, über eine immense Inflation, die seit Jahren im TV-Markt vorherrscht. Dem Ruf nach spotbasierten Leistungswerten kommt ja nun auch die AGF nach, wobei abzuwarten ist, ob diese Daten die erhofften Erkenntnisse bringen werden.
nb: Trotz des von Ihnen bereits angesprochenen Reichweitenrückgangs im linearen Fernsehen steigen die Werbepreise. Wie reagieren darauf Ihre Kunden? Und wohin wird das langfristig führen?
Zenner: Letztendlich beobachten wir in vielen Wirtschaftsbereichen aktuell hohe Inflationen. Der TV-Markt ist nach wie vor stark nachgefragt und ausgebucht. Dennoch sind die TKPs im linearen TV für viele Zielgruppen, sofern man sie auf Zielgruppenebene und ähnlicher Qualität vergleicht, weiterhin extrem kompetitiv zu OLV-Angeboten. Natürlich ist das für unsere Kunden schwer zu akzeptieren, dass die TV-Preise um ein Vielfaches höher sind als noch vor drei bis vier Jahren und die Inflation bei sinkenden Reichweiten weiter fortschreitet. Es wird Zeit, sich von der Trennung von linearem TV und alternativen Streaming-Angeboten zu lösen. Der Markt ist im Wandel und der Erfolg liegt in der gemeinsamen Betrachtung.
Becker: Sinkende Reichweiten und steigende Kosten wirken sich auf die gesamte Werbestrategie aus. Was wir unseren Kunden anbieten, ist daher eine durchdachte digitale Mediaplanung, bei der effiziente Kanäle mit hoher Reichweite in der Zielgruppe in den Fokus rücken. Das lineare TV – einst wichtigster Fokus-Kanal – nimmt auch bei uns immer mehr die Rolle eines ergänzenden Werbekanals ein. Geringere Reichweiten und höhere Kosten werden sich langfristig auf die Werbeauslastung der Sender auswirken. Freie Werbeplätze werden dann, wo möglich, stärker über digitale Angebote wie Addressable-TV und Connected-TV belegt, was am Ende mit höheren Werbekosten in diesen Bereichen verbunden sein wird.
Dickenscheid: Mittel- bis langfristig stellt sich das lineare TV mit dieser Preisstruktur im Intermedia-Vergleich deutlich unattraktiver dar. Tatsächlich sehen wir bereits die ersten Abkehr-Reaktionen etablierter TV-Kunden, und jeder investierte Euro wird deutlich intensiver hinterfragt, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Aufgrund der skizzierten Entwicklung ist es wichtig, Bewegtbildkampagnen holistisch zu planen und zu optimieren, das heißt übergreifend über lineares TV und OLV. Dafür nutzen wir bereits bei Dentsu einen uniquen Total-Video-Ansatz, mit dessen Hilfe der optimale Anteil zwischen TV und OLV unter Effizienz- und Reichweiten-Aspekten abgeleitet wird.
Zester: Wie wir besonders im vergangenen Jahr sehen konnten, bestimmt die Nachfrage den Preis, und da bilden die Geschäftsmodelle der TV-Vermarkter auch nicht die Ausnahme. Die Pandemie hat die Werbeaktivitäten vieler Kunden über Monate hinweg stark entschleunigt und führte nach langer Zeit wirtschaftlicher Unsicherheit und dem Kippen der Covid-Beschränkungen regelrecht zu einer Art TV-Werbe-Boom im Sommer 2021 – mit der logischen Konsequenz überfüllter Werbeblöcke und steigender Preise. Dass daraus jedoch aufgrund der kontinuierlich rückläufigen Reichweiten auch nachhaltig Inflationen jenseits von Gut und Böse resultieren, wird sowohl von uns als auch unseren Kunden sehr kritisch bewertet. Wir gehen jedoch davon aus, dass sich der Markt langfristig wieder beruhigen und auf einem evidenten Niveau einpendeln und somit auch zu einer gewohnten Stabilität zurückfinden wird.
nb: Die Diversifikation des Bewegtbildmarktes schreitet weiter fort: Stichwort Connected-TV und Einstieg von SVoD-Anbietern in die Videovermarktung. Was muss vor diesem Hintergrund das lineare Fernsehen leisten, um auch langfristig seine Relevanz zu bewahren?
Becker: Mit Mediatheken und Apps hat das lineare TV ja bereits erste Schrite unternommen. Damit werden starre Zeitgerüste aufgebrochen und Inhalte on Demand zur Verfügung gestellt. Allerdings müssen diese Services kontinuierlich ausgebaut werden, im besten Fall sollten sie die individuellen Bedürfnisse der Nutzer:innen berücksichtigen können. Für die Zukunft der TV-Werbung wird entscheidend sein, ob die Customer Journey der User:innen über das gesamte Inventar der Sender und verbundene digitale Kanäle abgebildet werden kann. Darüber hinaus rücken die Inhalte jetzt in den Fokus: Qualitativ hochwertige Formate für alle Teile der Gesellschaft entwickeln, das könnte die Rolle des linearen Fernsehens neben digitalen Streaming-Plattformen und Video-on-Demand-Angeboten stärken.
Dickenscheid: Die etablierten Medienhäuser verfolgen den nachvollziehbaren Schritt, ihre eigenen Mediatheken zu stärken, um Content unabhängig von Ort und Zeit anzubieten. Denn am Ende ist die Bereitstellung von hochwertigem Content ein wertvolles Gut. Aufgrund einiger erfolgloser Programm-Investitionen liegt hier eine entscheidende Herausforderung im Wettbewerb. Durch den bevorstehenden Einstieg des werbefinanzierten SVoD zweier großer Player im Markt, erwarten wir weiteren Wettbewerb und Druck für die großen TV-Vermarkter. Umso wichtiger wird es, vermarkterübergreifende Plattformen anzubieten, wie es zum Beispiel ARD und ZDF machen, um die hochwertigen Inhalte gebündelt und für den Konsumenten anbieten zu können.
Zester: Es ist wichtig, dass sich linearer TV-Content von digitalen Bewegtbild-Angeboten differenzieren kann. Das bedeutet, die TV-Vermarkter müssen auch zukünftig ihre Einzigartigkeit durch Live-Events und Eigenproduktionen wahren und ihre Positionierung als Produzenten exklusiven und lokalen Contents stärken. Ein sehr wichtiges Feld nehmen hierbei auch tagesaktuelle Nachrichten ein. Glaubwürdiger TV-Journalismus ist als Abgrenzung zu digitalen Inhalten wichtiger denn je und schafft hohe Relevanz.
Zenner: Zunächst müssen die neuen SVoD-Angebote sich erst einmal etablieren und skalieren. Aktuell ist die hohe Nutzung von TV weiterhin eine Macht. Es gibt natürlich eine steigende Anzahl von TV-Verweigerern, allerdings zeigt sich auch, dass Menschen sich einfach mal „berie-seln lassen“ wollen. Man möchte nicht immer entscheiden müssen, was man sich ansehen will. Das ist auch der entscheidende Unterschied. Während die linearen Sender eine kuratierte Programmdirektion haben und mit entsprechender Qualität punkten, ist beim Streaming der User sein eigener Programmdirektor, der sich platformübergreifend seine Inhalte zusammensucht.
Die starke Programmqualität der linearen Sender, die zu interessanten Zielgruppen mit zeitgleicher hoher Reichweite führt, in Kombination mit digitaler Buchungstechnik eines programmatischen Einkaufs wäre ein logischer nächster Schritt und würde den Werbetreibenden einen echten Mehrwert bieten. Inhaltlich müssen sich die linearen Sender klar abgrenzen von den Streaming-Angeboten. Live-Events und Eigenproduktionen sind da essenziell. Die Kunst ist es, jetzt die Diversifikation als Vorteil und Entwicklungsfeld zu betrachten und nicht als Untergang des Fernsehens.
nb: Die privaten Fernsehgruppen in Deutschland setzen auf Addressable-TV, um im Wettbewerb mit den digitalen VoD-Anbietern konkurrenzfähig zu bleiben. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß, und reicht er aus, um auch in Zukunft das Gewicht, das die TV-Vermarkter heute im Markt haben, zu halten?
Dickenscheid: Der Ausbau des ATV-Inventars in der erweiterten Definition inkl. CTV ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dennoch steht und fällt die Relevanz für ATV mit dem zugrunde liegenden Inventar, welches in Abhängigkeit mit der Nutzung und auch der Inhalte steht. Wie bereits erwähnt, ist der vermarkter- und medienübergreifende crossmediale Ausbau der Mediatheken wichtig, um relevant zu bleiben. Nur mit attraktivem Content, Eigenproduktionen, hochwertigen Spielfilmen und Serien, die mit internationalen Produktionen der starken Wettbewerber mithalten können, in Kombination mit einer relevanten TV-Nutzung, wird ATV die anvisierte und gewünschte steigende Relevanz zukommen. Ob es den TV-Vermarktern gelingen wird, ihre heutige Marktposition zu halten, bleibt spannend und aus unserer Sicht eine große Herausforderung.
Becker: Addressable-TV ist ein guter Schritt in die richtige Richtung – insbesondere auch, um lokal agierende Werbekund:innen zu gewinnen. Aber das allein wird nicht reichen. Damit die TV-Sender sich gegenüber Streamingdiensten behaupten können, müssen sie den Ausbau von VoD-Angeboten vorantreiben und die Konkurrenz immer im Blick haben. Denn der Werbemarkt verändert sich schnell. Für einen Abgesang auf das lineare Fernsehen ist es aber bei weitem zu früh: Auch das Radio hat schon ähnliche Herausforderungen gemeistert – und zwar erfolgreich.
Zester: Wir sehen die Fortschrite im Bereich Addressable-TV, diese sind für uns im Hinblick auf Konkurrenzfähigkeit aber nicht ausschlaggebend. Um im Wetbewerb gegen VoD-Anbieter zu bestehen, gilt es besonders auf den Ausbau der eigenen Streaming-Plattformen zu schauen. Um gegen die internationalen Anbieter konkurrenzfähig zu sein, würden wir uns wünschen, dass die deutschen TV-Vermarkter alle Inhalte auf einer Plattform aggregieren. Das würde nicht nur das Nutzungserlebnis der Zuschauer:innen verbessern, sondern zusätzlich eine stärkere Relevanz bewirken. Wir bei Wavemaker denken, es ist extrem wichtig, dass die deutschen Anbieter hier ein Gegengewicht schaffen.
Zenner: Addressable-TV alleine reicht nicht aus, um konkurrenzfähig zu bleiben. Allerdings ist ja neben ATV auch einiges andere in Bewegung. Immer mehr Anbieter versuchen ein gemeinsames Angebot über alle Kanäle aufzusetzen, C-Flight von der Seven.One Media ist hier ein Beispiel. Auch der Programmatic TV-Ansab von Seven. One mit Virtual Minds versucht, TV anders buchbar zu machen. Sind diese Ansätze schon das Optimum? Nein, da durch die aktuellen Umsetzungsmöglichkeiten die Bewegtbild-Kampagnen aus unserer Sicht schlechter würden. Weil man den großen Vorteil von TV, die sehr genaue Selektierbarkeit von wirksamen Umfeldern, leider in diesen Fällen über Bord wirft. Aber es zeigt, dass Bewegung da ist und zwar auch jenseits der Addressable TV-Entwicklungen.
(Umfrage: Margit Mair)
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